In der Frage der Auslieferung des Regisseurs Roman Polanski an die USA besteht durchaus rechtlicher Spielraum. Unter dem Titel «Ordre public» können inländische Wertvorstellungen als kollisions- wie anerkennungsrechtliche Vorbehalte angebracht werden – man wäre gut beraten, diese sorgfältig zu prüfen.

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NZZ Neue Zürcher Zeitung vom 2.Oktober 2009

In der Frage der Auslieferung des Regisseurs Roman Polanski an die USA besteht durchaus rechtlicher Spielraum. Unter dem Titel «Ordre public» können inländische Wertvorstellungen als kollisions- wie anerkennungsrechtliche Vorbehalte angebracht werden – man wäre gut beraten, diese sorgfältig zu prüfen.
Von Hans Giger

Die Festnahme des polnisch-französischen Regisseurs Roman Polanski in der Schweiz und seine mögliche Auslieferung an die USA werfen hohe Wellen. Die Befürworter der Auslieferung gründen die moralisch motivierte Rechtfertigung ihrer Haltung im Wesentlichen auf die suggestiv wirkenden, oft gehörten Äusserungen, wonach «alle Bürger vor dem Gesetz gleich» seien und es keine «Promi-Boni» geben dürfe. In solcher Argumentation offenbart sich das gewollte oder ungewollte Missverständnis: Es geht hier nicht um die Beurteilung der Tat. Uns fehlen diesbezüglich die Kompetenz und die erforderlichen Informationen, um ein Werturteil aussprechen zu können. Zuständig und verantwortlich hierfür sind einzig und allein die USA, wo Polanski vor gut 30 Jahren «Sex mit einer Minderjährigen» gehabt haben soll.

Was in der Schweiz zu klären ist
In der Schweiz haben wir nur zu klären, ob wir aufgrund der staatsrechtlichen Abreden mit den USA verpflichtet sind, den international ausgeschriebenen Filmemacher in Auslieferungshaft zu nehmen. Können sich die für die Verhaftung zuständigen Behörden tatsächlich auf die Rechtsstaatlichkeit berufen? Das Justizdepartement tritt selbstsicher auf: Der verantwortlich handelnden Amtsstelle sei nichts anderes übrig geblieben. Im rechtlichen Bereich begegnet man generell der kaum variierenden Ansicht, dass die bilateralen völkerrechtlichen Vereinbarungen kaum Spielraum zur Ablehnung der Auslieferung belassen, zumal der entsprechende Vertrag zwischen der Schweiz und den USA präzis und detailliert umschrieben sei. – Nun gibt es aber Normen im internationalen Privatrecht wie im internationalen öffentlichen Recht, die sich mit den grundlegenden Aspekten der inländischen Wertvorstellungen unter dem Titel «Ordre public» befassen. Unter anderem bestehen kollisions- wie anerkennungsrechtliche Ordre-public-Vorbehalte. Gemeinsam ist beiden, dass eine Vollstreckungsaufforderung eines Drittstaates, die auf einer mit den Gerechtigkeitsgrundsätzen unvereinbaren und im Resultat inakzeptablen ausländischen Rechtsnorm beruht, nicht zur Anwendung gebracht werden muss. Die Voraussetzungen der Anwendbarkeit des Ordre-public-Grundsatzes sind folgende: offensichtliche Unvereinbarkeit einer Rechtsnorm eines Drittstaates mit wesentlichen Grundsätzen des Rechtshilfestaates, hinreichender Inlandbezug sowie Untragbarkeit der Anwendung im konkreten Fall.

Bereits eine flüchtige Betrachtung der Voraussetzungen legt nahe, dass man gut beraten wäre, ihre Stichhaltigkeit sorgfältig zu prüfen. Immerhin darf man davon ausgehen, dass die «bedingungslose» Auslieferung gemäss Vertrag Schweiz – USA insofern unter die Ordre-public-Klausel fällt, als angesichts der in unserem Land gültig eingetretenen Verjährung «Unvereinbarkeit» vorliegt. Der «hinreichende Inlandbezug» ist durch regelmässige Aufenthalte Polanskis in Gstaad gegeben, und die «Untragbarkeit der Anwendung im konkreten Fall» liegt in der Gesamtkonstellation von Tat, Zeitablauf, bisheriger Untätigkeit der Behörden usw. – Konkrete Ausgangsbasis für die rechtliche Beurteilung von Verhaftung und Auslieferung von Polanski bildet zunächst einmal die Abklärung der allenfalls eingetretenen Verfolgungsverjährung.

Gemäss Staatsvertrag darf die Auslieferung seltsamerweise verweigert werden, wenn die Strafverfolgung durch Verjährung gemäss dem Recht des ersuchenden Staates – also der USA – ausgeschlossen ist. Im Grunde genommen ist es aber doch so, dass die USA das Institut der Verjährung im Common Law grundsätzlich gar nicht kennen. Daraus müsste man den Schluss ziehen, dass diese Bestimmung des Staatsvertrags in Wirklichkeit gar nie zur Anwendung käme. Überdies wäre eine Auslieferung schon angesichts der nicht berücksichtigten Unterschiedlichkeit der Rechtssysteme der USA und der Schweiz fragwürdig, weil nach unserer Rechtsaufassung eine Verjährungsregelung dem Rechtsfrieden dient und damit als unverzichtbar gilt. Diese Frage müsste auch unter menschenrechtlichen Aspekten geprüft werden. Selbst bei Anwendung der erst 2008 in Kraft getretenen Strafrechtsreform wäre die Verfolgungsverjährung für die 1977 erfolgte Tat nach schweizerischem Recht bereits eingetreten. Bedeutung erlangt diese Feststellung im Zusammenhang mit dem Ordre public, ist es doch mit unseren Rechtsvorstellungen unvereinbar, einen Täter nach über 33 Jahren noch zur Rechenschaft zu ziehen.

Erhebliche Beweisschwierigkeiten
Dazu kommt, dass der Vollzug des Auslieferungsbegehrens im konkreten Fall die Annahme einer «besonderen Untragbarkeit» rechtfertigt, die als weitere Voraussetzung zur Berufung auf den Ordre public erfüllt ist: Polanski hatte sich nach der Tat den Strafbehörden gestellt. Der damals zuständige Richter Laurence J. Rittenband hatte den Geständigen damals zu einer 90-tägigen psychiatrischen Begutachtung einweisen lassen und sich mit Staatsanwalt und Verteidigung auf eine Bewährungsstrafe geeinigt. Der zuständige Richter wurde als «zwielichtige Figur» beschrieben, der Fakten und Gutachten wie rechtliche Korrektheit weniger bedeuteten als Publizität. Kurz vor der Urteilsverkündung wollte er den bereits in Freiheit lebenden Roman Polanski erneut begutachten lassen. Es war keine eigentliche Flucht im Rechtssinne, als sich Roman Polanski alsdann aus den USA entfernte. Diese Umstände müssten in Übereinstimmung mit den internationalen Regeln über die Anwendung des Ordre public durch Ablehnung des Auslieferungsgesuchs Berücksichtigung finden.

Weitere Überlegungen unterstützen diesen Schluss:
Nach 33 Jahren kann die bis anhin unterlassene Abklärung der tatbeständlichen Vorgänge infolge ganz erheblicher Beweisschwierigkeiten nicht mehr nachgeholt werden. Ein gerechtes Urteil wäre mit anderen Worten gar nicht mehr möglich, weil Belastungs- und Entlastungsbeweise durch den langen Zeitablauf eine echte Wahrheitsfindung verunmöglichen würden. Es fehlten stichhaltige Anhaltspunkte für eine Verurteilung, und somit bestünde die reale Gefahr von Fehlentscheiden aus Emotionen und unter dem Druck der Öffentlichkeit. Einem solchen unwürdigen Prozedere darf niemand ausgesetzt werden.